Diagnostik von Legasthenie und Dyskalkulie

Immer wieder stellen mir Lehrkräfte in Lehrerfortbildungsseminaren und auch Eltern in Beratungsgesprächen die Frage, welche Befunde in Österreich notwendig sind, um die Lernstörungen Legasthenie und Dyskalkulie in der Schule berücksichtigen zu können.  Diese Frage kann ich mit einem kurzen und knappen KEINE beantworten. Wem diese Antwort genügt, kann nun aufhören zu lesen, alle anderen lade ich ein, mit mir gemeinsam tiefer in das Thema einzutauchen und zu klären, warum kein Befund notwendig, aber dennoch manchmal sehr hilfreich ist.

Darf die Lehrkraft Legasthenie oder Dyskalkulie nur dann berücksichtigen, wenn eine Diagnose bzw. ein Befund vorliegt?

Diese Frage kann ich nun klar mit einem NEIN, es muss kein Befund vorliegen beantworten. Es ist Aufgabe der Lehrkraft den Lernstand des Kindes differenziert zu erfassen. Es KANN ein eine klinisch-psychologische Diagnostik oder ein pädagogischer Fachbefund hinzugezogen werden. Die Betonung liegt auf KANN und nicht auf MUSS. Um meine Antwort zu untermauern, habe ich hier einige Auszüge aus aktuell gültigen Erlässen zusammengefasst:


Zentral für die Verbesserung der Situation von Schülerinnen und Schülern mit Lese-/Rechtschreibschwierigkeiten ist die frühzeitige Identifikation der individuellen Problematik durch die Lehrkräfte. Im schulischen Kontext werden die Fördermaßnahmen NICHT auf Kinder und Jugendliche mit klinisch-psychologischer Diagnose eingegrenzt, sondern ALLE Schülerinnen und Schüler mit Lese-/Rechtschreibschwierigkeiten werden in entsprechende Fördermaßnahmen im Rahmen des Unterrichts eingebunden.

R U N D S C H R E I B E N Nr. 24/2021 des Bundesministeriums für Bildung

„Es ist Aufgabe der Klassenlehrerin/des Klassenlehrers (im Grundschulbereich) oder des Fachlehrers/der Fachlehrerin (im Sekundarbereich), den Stand des Rechnenlernens differenziert zu erfassen, damit eine bestmögliche individualisierte Förderung möglich wird. Dabei ist es erforderlich, dass die Lehrperson auch Beobachtungen der Eltern/Erziehungsberechtigten betreffend die häusliche Übungssituation in die Entscheidung mit einbezieht.“

R u n d s c h r e i b e n Nr. 27/2017 des Bundesministeriums für Bildung

…empfiehlt es sich, zu Beginn der Sekundarstufe Situationen und Beobachtungsmöglichkeiten zu schaffen, um zu überprüfen, inwieweit der mathematische Basisstoff der Grundschule gefestigt ist. Neben Test- und Schularbeitssituationen sind dabei insbesondere Beobachtungsmöglichkeiten zur Erfassung der Denk- und Rechenstrategien des Schülers/der Schülerin essentiell….

R u n d s c h r e i b e n Nr. 27/2017 des Bundesministeriums für Bildung

Zur Berücksichtigung einer Lese-Rechtschreibstörung, einer isolierten Lesestörung bzw. einer isolierten Rechtschreibstörung bedarf es keiner Begutachtung durch Schulpsycholog/innen und keiner Bestätigung des Vorliegens einer LRS/ILS/IRS von außerschulischer Seite.

Erläuterung zu Erlass I

Eine schulpsychologische Begutachtung und Beratung kann in jenen Fällen hilfreich sein, wenn sich zusätzlich zur pädagogischen Seite der LRS-Problematik eine psychologische Fragestellung ergibt (z.B. aus dem Gespräch mit den Erziehungsberechtigten, aus Vorgutachten, aus Beobachtung des Sozial- und Leistungsverhaltens im Unterricht bzw. wenn trotz konsequenter Förderung keine Verbesserung der LRS erzielt werden kann).

Erläuterung zu Erlass I

Gibt es einen Bescheid oder ist eine Diagnose für die Schule notwendig?
Nein, es gibt keinen „Legasthenie-Bescheid“ (auch keinen Zeugnisvermerk). Eine Diagnostik ist für die Berücksichtigung im schulischen Umfeld nicht notwendig. Für eine gezielte Förderung ist es jedoch hilfreich.

Handreichung für den Bezirk Braunau zum Thema Lese-Rechtschreib-Schwäche

Die Schule darf außerschulische Gutachten nicht einfordern - nur Empfehlungen sind möglich!

FAQs von der Schulpsychologie-Bildungsberatung (Landesschulrat für Niederösterreich)

Aufgabe der Schule ist es, durch Individualisierung, Personalisierung und Differenzierung den Schülerinnen und Schülern die jeweils passenden Zugangsmöglichkeiten zu eröffnen, damit sie aktiv und zunehmend eigenständig ihre individuellen Leistungspotenziale und besonderen Begabungen entfalten können. Leistungsfähigkeit ist dabei kontinuierlich zu fördern und herauszufordern.

Lehrplan für NMS 2018

Fazit:

Es ist also die Aufgabe der Lehrkraft Lernprobleme zu erkennen und dementsprechend darauf zu reagieren. Die Lehrkraft ist verpflichtet differenziert zu unterrichten, zielgerichtete Lernangebote zu schaffen und unterschiedliche Vorerfahrungen zu berücksichtigen.

Die Lehrkraft darf ohne Vorliegen eines Befundes gemeinsam mit speziell ausgebildeten Fachlehrkräften und der Schulleitung entscheiden, welche Hilfestellungen notwendig sind. Die notwendigen Hilfestellungen, die im Schulalltag zum Einsatz kommen, sind auch bei den (abschließenden) Prüfungen anzuwenden.

Warum sollte man im Zweifelsfall trotzdem einen schriftlichen Befund vorliegen haben?

Wir haben nun also erfahren, dass für die Berücksichtigung einer Lernstörung in der Schule kein außerschulischer Nachweis erforderlich ist. In vielen Fällen ist es trotzdem von Vorteil ein schriftliches Gutachten in den Händen zu haben.

Häufig sind die Eltern die Ersten, die die Schwierigkeiten ihres Kindes in der Schule beobachten. Nicht selten haben Eltern selbst mit ähnlichen Mühsalen in der Schule gekämpft und sind für die Probleme ihres Kindes sensibilisiert.  Eltern können die aktuellen Leistungen ihres Kindes mit den Leistungen älterer Geschwister oder der Schulfreunde vergleichen. Sie beobachten das deutlich verlangsamte Lerntempo und die mühsamen Strapazen bei Hausübungen. Lehrer erfahren oft gar nicht welche Anstrengungen zu Hause unternommen werden, um Hausübungen vollständig abgeben oder Tests positiv bewältigen zu können. Lehrkräfte sind stets um das Wohl ihrer Schützlinge bemüht, aber nicht immer richtig informiert und oft werden die Lernschwierigkeiten unterschätzt. Ständig hört man die Sätze Das wird schon oder Das wächst sich schon noch aus. Das Vorliegen eines schriftlichen Befunds kann also helfen die Schule hellhöriger zu machen und in die Verantwortung zu nehmen, das betroffene Kind angemessen zu fördern und zu unterstützen.

Ein Befund gibt auch Auskunft über die genauen Ursachen der Schulprobleme. Nicht nur die Lernschwierigkeiten Ihres Kindes werden aufgedeckt, sondern auch seine Stärken und Ressourcen. Er hilft zu entscheiden, welche Maßnahmen am besten gesetzt werden müssen, um dem betroffenen Kind bestmöglich zu helfen.

Für die Eltern ist es eine Erleichterung zu erfahren, nichts falsch gemacht zu haben.

Förderdiagnostik vom Therapeuten oder eine Statusdiagnostik vom klinischen Psychologen?

Wohin wendet man sich nun, wenn man die Ursachen der Schulprobleme abgeklärt haben möchte? Das hängt in erster Linie von der Fragestellung ab.

Jedenfalls sollten bei Verdacht auf eine Lese-Rechtschreibstörung bzw. Legasthenie verdeckte Probleme mit den Augen und Ohren ausgeschlossen werden. Veranlassen Sie also zunächst einen Seh- und Hörtest bei dem jeweils zuständigen Facharzt.

Förderdiagnostik vom Therapeuten

Hat ein Kind nur Schwierigkeiten beim Erlenen des Lesens, Rechtschreibens und/oder Rechnens. Ist aber ansonsten neugierig, interessiert, kann dem Unterricht z. B. im Sachunterricht gut folgen und hat keine auffälligen Verhaltens-, Konzentrations- und Aufmerksamkeitsprobleme ist in meinen Augen eine pädagogische Förderdiagnostik von einer gut ausgebildeten Therapeutin oder gut ausgebildetem Therapeuten ausreichend.

Eine gute Förderdiagnostik beinhaltet neben einem ausführlichen Anamnesegespräch standardisierte Lese-, Rechtschreib- und Rechentests. Im Anamnesegespräch wird versucht den Problemen auf den Grund zu gehen. Es werden Fragen gestellt wie

  • Wann sind die Schwierigkeiten zum ersten Mal als Problem wahrgenommen worden?
  • Lernprobleme können vererbbar sein. Gibt es in der Familie Personen mit ähnlichen Schwierigkeiten?
  • Gibt es Konfliktsituationen beim Erledigen der Hausübungen/beim Lernen? Welcher Art?
  • etc.

Standardisierte Tests ermöglichen die Schulleistungen mit Kindern derselben Schulstufe zu vergleichen. Sie geben Hinweise, wie gravierend das Problem ist und sie ermöglichen es, die Fortschritte zu messen, die während einer Therapie gemacht werden.  Die Therapeutin oder der Therapeut wird sich die gemachten Fehler genauer ansehen und vor allem bei Rechenaufgaben versuchen die Gedankengänge, die hinter einem Rechenfehler stehen genau zu durchleuchten, um falsche oder umständliche Rechenstrategien wie zählendes Rechnen aufzudecken.   

Ein ausführlicher pädagogischer Befund enthält folglich neben Zahlenwerten, die Auskunft über das Leistungsvermögen beim Lesen, Rechtschreiben oder Rechnen geben, auch eine detaillierte Auflistung der noch nicht verstandenen Grundlagen. Beim Rechtschreiben könnten z. B. noch nicht gefestigte Buchstaben oder Rechtschreibregeln angegeben sein. Der pädagogische Befund soll Ausgangspunkt für eine individuelle Förderung in der Schule sein oder als Grundstock für eine Therapie dienen. Die Förderdiagnostik hat immer die Planung und Optimierung der Förderung des Kindes zum Ziel. Ebenso versucht sie, die nächsten kleinschrittigen Lernschritte zu beschreiben und Hinweise zu geben, mit welcher Unterstützung das Kind diese Schritte gehen kann.

Klinisch-psychologische Diagnostik vom Psychologen

Eine klinisch-psychologische Abklärung ist empfehlenswert, wenn neben Schwierigkeiten des Lesen-, Schreiben- oder Rechnenlernens allgemeine kognitive Schwächen vermutet werden, sozial emotionale Auffälligkeiten (z.B. Ängste, depressive Stimmungen usw.) hinzukommen, bei Lernproblemen in mehreren Gegenständen und bei Konzentrationsproblemen.

Die klinisch-psychologische Diagnostik ist wesentlich umfangreicher als die pädagogische. Je nach Fragestellung kommt es zur Auswahl evaluierter Entwicklungs- und Leistungstests, Verhaltensbeobachtung, Einsatz von Fragebögen, gegebenenfalls auch Persönlichkeitstests oder neuro-psychologischer Tests.

Der klinisch-psychologische Befund beantwortet allerdings nur die Frage, ob Ihr Kind Legasthenie oder Dyskalkulie hat, oder nicht. Ob eine Therapie anzuraten ist, oder nicht.

Wie viel kostet ein Befund?

Die klinisch-psychologische (Entwicklungs-)Diagnostik gilt als eine Dienstleistung im Gesundheitsbereich, deren Kosten bei Vertragspsychologen von den gesetzlichen Krankenkassenträgern übernommen wird. Das heißt, bei Vertragspsychologen werden die Kosten für die klinisch- psychologische Diagnostik zur Gänze von der  jeweiligen gesetzlichen Krankenkasse übernommen, dem Betroffenen  entstehen keinerlei Ausgaben, aber nur dann wenn gleichzeitig beispielweise Aufmerksamkeits- und Konzentrationsprobleme auf den Grund gegangen wird. Voraussetzung für die Kostenübernahme durch die gesetzlichen Krankenkassen ist eine ärztliche Überweisung.

Die klinisch-psychologische Diagnostik bei einem Wahlpsychologen oder die pädagogische Diagnostik bei einer Therapeutin oder einem Therapeuten hingegen ist kostenpflichtig.

Wichtig zu wissen!

Egal ob Sie sich nun für eine klinisch-psychologische oder eine pädagogische Diagnostik entscheiden. Achten Sie bei Psychologinnen und Psychologen auf Zusatzqualifikationen im Bereich Legasthenie und Dyskalkulie. Nur wer ein fundiertes und spezifisches Fachwissen über Lernstörungen besitzt, kann Ergebnisse von Schulleistungstests angemessen interpretieren.

Für Therapeutinnen des Berufsverband Akademischer Legasthenie- und Dyskalkulie-Therapie kann ich die entsprechende Ausbildung garantieren. BALDT

Pädagogischer Fachbefund in meiner Praxis

Als Akademische Therapeutin für Lernstörungen (Dyslexie/Dyskalkulie) bin ich berechtigt, ein pädagogisches Gutachten mit der Fragestellung Lese-Rechtschreibschwäche und/oder Rechenschwäche zu verfassen. Prinzipiell ist von der Schule das eingebrachte Gutachten zu akzeptieren.

Mehr darüber erfahren Sie hier.

Noch Fragen? Dann besuchen Sie unsere Facebookgruppe Legasthenie und Dyskalkulie Österreich.

Links

Erläuterung zu Erlass I

Handreichung für den Bezirk Braunau zum Thema Lese-Rechtschreib-Schwäche

Lehrplan für NMS 2018

R u n d s c h r e i b e n Nr. 27/2017 des Bundesministeriums für Bildung

R u n d s c h r e i b e n Nr. 24/2021 des Bundesministeriums für Bildung

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