Es ist für Familien nicht leicht, wenn sich herausstellt, dass das jüngste Familienmitglied eine Lernstörung hat. Ein langer Leidensweg aus stundenlangem Üben ohne positive Effekte, Tränen bei den Hausaufgaben und wachsendem Frust geht der eigentlichen Diagnose oft voraus. Ist sie dann endlich gestellt, beginnt die nächste Hürde: Die Suche nach einer geeigneten außerschulischen Lerntherapie. Wenn man überhaupt einen Platz findet, ist das Training zeitintensiv und teuer.
Aber was wäre, wenn Kinder mit Lernstörungen erst gar keine außerschulische Lerntherapie mehr bräuchten? Utopisch? Vielleicht. Aber genau solche Perspektivenwechsel braucht es, wenn wir über Bildung sprechen. Denn wer immer nur Löcher flickt, wird irgendwann feststellen, dass das Boot irgendwann trotzdem sinkt.
Statt Symptome zu bekämpfen, sollten wir uns fragen: Was müsste sich ändern, damit Lernstörungen nicht zu einem jahrelangen Kampf für Kinder und Eltern werden? Hier sind meine Gedanken dazu – als Lerntherapeutin, aber auch als jemand, der sich wünscht, überflüssig zu werden.
Kinder kommen mit ganz unterschiedlichen Voraussetzungen in die Schule. Einige bringen bereits gut entwickelte sprachliche, mathematische und kognitive Grundlagen mit, andere müssen sich vieles erst mühsam erarbeiten.
Genau hier müsste Prävention beginnen: In der Elementarpädagogik – und zwar nicht zufällig, sondern strukturiert.
Gerade Elementarpädagoginnen benötigen einen fundierten fachlichen Grundstock für ihre Arbeit mit Kindern. Meiner Meinung nach ist es ein Unding, dass wir in Österreich nach wie vor pädagogische Fachkräfte ohne Hochschulabschluss auf unsere Jüngsten loslassen. Ich selbst habe in jungen Jahren eine HTL für Raumgestaltung besucht – mit der Option, Tischlerin zu werden. Den Tisch, den ich nach fünf Jahren Schule selbständig hätte bauen können, will vermutlich niemand in seinem Esszimmer stehen haben.
Aber bei Kindern soll es ausreichen, wenn jemand „ein bisschen Pädagogik“ neben den allgemeinen Schulfächern gelernt hat?
Was stimmt da nicht mit unserem Bildungssystem?
Ein Blick nach Skandinavien zeigt, dass es auch anders geht: In Ländern wie Finnland, Dänemark oder Schweden ist die Ausbildung von Elementarpädagoginnen universitär verankert. Dort gehören entwicklungspsychologische Grundlagen, Didaktik, Diagnostik und inklusive Pädagogik zum Standard. Das wirkt sich auch auf die Praxis aus: Kinder werden frühzeitig beobachtet, individuelle Stärken und Förderbedarfe erkannt – und gezielt unterstützt, noch bevor schulische Schwierigkeiten entstehen.
Was es braucht, ist eine hochwertige Ausbildung, die sowohl entwicklungspsychologisches Wissen als auch didaktische Kompetenz vermittelt – und zwar auf Hochschulniveau.
Einheitliche Standards, ein klar formulierter Bildungs- und Förderauftrag sowie echte Professionalisierung wären der erste Schritt.
Wer hier spart, zahlt später doppelt – durch schulischen Misserfolg, psychische Belastungen und hohen Förderbedarf.
Frühförderung ist kein nettes Extra, sondern der erste Schritt zu echter Bildungsgerechtigkeit.
Das Wissen über Lernstörungen wie Lese-Rechtschreib-Schwäche oder Rechenschwäche gehört nicht ans Randmodul eines ohnehin überfrachteten Studiums – sondern mitten hinein.
Was bringt das beste didaktische Konzept, wenn Lehrkräfte die Anzeichen von LRS oder Dyskalkulie nicht erkennen – oder nicht wissen, wie sie reagieren sollen?
Wir brauchen im Lehramtsstudium:
- Evidenzbasierte Inhalte statt pädagogischer Mythen
- Praxisnahe Fallbeispiele statt reiner Theorie
- Austausch mit Lerntherapeut*innen und anderen Expert*innen
Wer Kinder mit Lernstörungen begleiten will, sollte sie nicht erst dann verstehen lernen, wenn das erste betroffene Kind in der eigenen Klasse sitzt – sondern schon im Studium.
Gerade in den ersten Schuljahren zeigt sich: Weniger Stoff ist oft mehr Lernerfolg.
Ein Anfangsunterricht, der sich auf das Wesentliche konzentriert, schafft Raum für echtes Verstehen – und schützt Kinder davor, den Anschluss zu verlieren.
Kinder brauchen:
- Zeit, um sich im Zahlenraum zurechtzufinden
- Geduld beim Erlernen jedes einzelnen Buchstabens
- Raum, um das Schreiben nicht nur zu automatisieren, sondern wirklich zu durchdringen
Wenn jedes Thema nur angerissen, aber nicht vertieft wird, bleiben Verständnis und Motivation auf der Strecke. Tempo ersetzt kein Verständnis. Und durchkommen ist nicht dasselbe wie ankommen.
Ein reduzierter, klar strukturierter Lehrplan ist kein Rückschritt, er ist eine Investition in Nachhaltigkeit.
Warum handeln wir oft erst dann, wenn das Kind längst in den Brunnen gefallen ist? Was wäre, wenn jede Schule eine fest angestellte lerntherapeutische Fachkraft hätte?
Diese könnte:
- Risikokinder frühzeitig erkennen
- Individuelle Förderpläne mit Lehrkräften entwickeln
- Eltern fachlich begleiten
- Und damit den Bedarf an externer Unterstützung deutlich senken
Das ist keine Luxusidee, sondern funktionierende Prävention. Und langfristig günstiger als teure Einzelmaßnahmen in der Sekundarstufe oder darüber hinaus.
Lerntherapie bleibt wichtig – keine Frage.
Das muss ich natürlich als Lerntherapeutin an dieser Stelle schreiben – aber ich meine es auch so. Denn wenn Prävention nicht greift, braucht es qualifizierte Unterstützung, die gezielt und evidenzbasiert hilft.
Aber wenn wir ernsthaft etwas verändern wollen, müssen wir dort ansetzen, wo Lernschwierigkeiten entstehen. Nicht, wenn sie bereits chronisch geworden sind.
Echte Bildungsreform heißt:
- Ursachen erkennen, bevor Symptome eskalieren,
- Strukturen schaffen, die Kinder stärken
- Und Verantwortung nicht auf Eltern abwälzen, die ohnehin schon am Limit sind
Wenn wir Lernschwierigkeiten frühzeitig erkennen, professionell begleiten und passende Strukturen schaffen, entlasten wir nicht nur Kinder und Eltern – wir stärken unser gesamtes Bildungssystem.
Es lohnt sich, in frühe, fundierte Unterstützung zu investieren.
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