Es ist zum Haare raufen – 4 Mythen rund um Lernstörungen

Ich liebe meine Arbeit als Lerntherapeutin und es bereitet mir unheimlich viel Freude mein Wissen in Aus- und Fortbildungen für Kolleginnen oder Lehrkräfte weiterzugeben. Dennoch bringt mich meine Arbeit in regelmäßigen Abständen zum Haare raufen. Es gibt gängige Aussagen über Lernstörungen, die immer wieder auftauchen, obwohl sie nicht der Realität entsprechen. In diesem Artikel möchte ich meine Frustrationen teilen und gleichzeitig zur Aufklärung beitragen. Dabei werde ich vier weitverbreitete Mythen rund um LRS und Rechenstörungen entlarven.

Mythos 1 - Die Rundschreiben des Bildungsministeriums sind nur Empfehlungen!

Es frustriert mich zutiefst, immer wieder die unzutreffende Behauptung zu lesen oder zu hören, dass die Rundschreiben des österreichischen Bundesministeriums mit den Titeln "Richtlinien für den Umgang mit Lese-/Rechtschreibschwierigkeiten (LRS) im schulischen Kontext" oder "Richtlinien für den schulischen Umgang mit Schülerinnen und Schülern mit Schwierigkeiten beim Rechnenlernen" lediglich Empfehlungen seien! Dieses hartnäckige Gerücht hält sich seit Jahren und wird regelmäßig verbreitet. An dieser Stelle möchte ich deutlich machen, dass dies nicht der Wahrheit entspricht!

Im Gegensatz zu Leitlinien sind Richtlinien gesetzlich verbindlich. Gemäß der Definition auf der Internetseite des Öffentlichen Gesundheitsportals Österreich sind Richtlinien Handlungsregeln, die von einer gesetzlich legitimierten Institution veröffentlicht werden. Sie sind für den Rechtsraum dieser Institution verbindlich, und eine Nichtbeachtung kann festgelegte Sanktionen nach sich ziehen. Mit anderen Worten: Die Rundschreiben des Bildungsministeriums sind für alle Lehrkräfte rechtlich bindend! Es ist wichtig zu betonen, dass diese Rundschreiben für alle Schulen und Schulformen gelten, einschließlich AHS und BHS über alle Schulstufen hinweg.

Mythos 2 - Das wächst sich schon aus!

Als Lerntherapeutin höre ich oft von Eltern betroffener Kinder, dass bisher nichts unternommen wurde, wenn ich nach den Problemen in der Schule frage. Immer wieder höre ich: "Die Lehrerin meinte, wir sollen ihm Zeit geben, das wächst sich schon noch aus."

Das ist falsch, liebe Lehrkräfte! Weder Probleme beim Lese- und Rechtschreiberwerb noch Schwierigkeiten im Umgang mit Zahlen und Mengen verschwinden in den meisten Fällen von allein. Im Gegenteil, die Belastungen für die Kinder werden mit jeder Schulstufe größer! Es ist wichtig, diese Herausforderungen frühzeitig anzugehen und angemessene Unterstützung bereitzustellen, um langfristige Auswirkungen zu vermeiden.

Mythos 3 – Sie müssen halt zu Hause mehr üben!

Lehrkräfte können gar nicht wissen, wie viel zu Hause tatsächlich geübt wird. Kinder mit LRS oder Dyskalkulie üben häufig um ein Vielfaches mehr als nicht betroffene Kinder. Leider zeigen sich die gewünschten Verbesserungen oft nicht oder nur minimal. In diesem Zusammenhang zu hören, dass das Kind mehr üben müsse, kann für die Eltern wie ein Schlag ins Gesicht wirken.

Eltern von Kindern mit Lernstörungen sind nicht selten selbst von einer solchen betroffen. Das bedeutet, dass viele Eltern nicht in der Lage sind, ihren Kindern zu helfen, selbst wenn sie es möchten, da sie selbst Schwierigkeiten mit dem Lesen, Rechtschreiben oder Rechnen haben.

Es gibt alleinerziehende Mütter, die den ganzen Tag arbeiten und danach zu Hause den Haushalt schupfen müssen. Sie finden möglicherweise nicht die nötige Zeit oder Ruhe, um zu Hause mit ihren Kindern am Abend noch zusätzlich stundenlang zu üben.

Eltern sind keine ausgebildeten Pädagogen und müssen nicht zwingend wissen, wie sie effektiv und gezielt mit ihren Kindern üben sollen.

Statt also die lapidare Empfehlung auszusprechen, dass Eltern zu Hause mehr üben sollen, könnten Lehrkräfte konkrete Maßnahmen, Übungsmaterialien und -ideen an die Eltern weitergeben, um sie bei der Förderung ihrer Kinder zu unterstützen.

Mythos 4 - Damit wir die LRS oder Dyskalkulie in der Schule berücksichtigen können, benötigen wir einen offiziellen Befund eines Psychologen!

Auch diese Behauptung stimmt nicht!
Es ist Aufgabe der Lehrkraft den Lernstand des Kindes differenziert zu erfassen. Um meine Aussage zu untermauern, habe ich hier einige Auszüge aus aktuell gültigen Erlässen zusammengefasst:


Zentral für die Verbesserung der Situation von Schülerinnen und Schülern mit Lese-/Rechtschreibschwierigkeiten ist die frühzeitige Identifikation der individuellen Problematik durch die Lehrkräfte. Im schulischen Kontext werden die Fördermaßnahmen NICHT auf Kinder und Jugendliche mit klinisch-psychologischer Diagnose eingegrenzt, sondern ALLE Schülerinnen und Schüler mit Lese-/Rechtschreibschwierigkeiten werden in entsprechende Fördermaßnahmen im Rahmen des Unterrichts eingebunden.

R U N D S C H R E I B E N Nr. 24/2021 des Bundesministeriums für Bildung


„Es ist Aufgabe der Klassenlehrerin/des Klassenlehrers (im Grundschulbereich) oder des Fachlehrers/der Fachlehrerin (im Sekundarbereich), den Stand des Rechnenlernens differenziert zu erfassen, damit eine bestmögliche individualisierte Förderung möglich wird. Dabei ist es erforderlich, dass die Lehrperson auch Beobachtungen der Eltern/Erziehungsberechtigten betreffend die häusliche Übungssituation in die Entscheidung mit einbezieht.“

R u n d s c h r e i b e n Nr. 27/2017 des Bundesministeriums für Bildung


…empfiehlt es sich, zu Beginn der Sekundarstufe Situationen und Beobachtungsmöglichkeiten zu schaffen, um zu überprüfen, inwieweit der mathematische Basisstoff der Grundschule gefestigt ist. Neben Test- und Schularbeitssituationen sind dabei insbesondere Beobachtungsmöglichkeiten zur Erfassung der Denk- und Rechenstrategien des Schülers/der Schülerin essentiell….

R u n d s c h r e i b e n Nr. 27/2017 des Bundesministeriums für Bildung


Zur Berücksichtigung einer Lese-Rechtschreibstörung, einer isolierten Lesestörung bzw. einer isolierten Rechtschreibstörung bedarf es keiner Begutachtung durch Schulpsycholog/innen und keiner Bestätigung des Vorliegens einer LRS/ILS/IRS von außerschulischer Seite.

Erläuterung zu Erlass I


Eine schulpsychologische Begutachtung und Beratung kann in jenen Fällen hilfreich sein, wenn sich zusätzlich zur pädagogischen Seite der LRS-Problematik eine psychologische Fragestellung ergibt (z.B. aus dem Gespräch mit den Erziehungsberechtigten, aus Vorgutachten, aus Beobachtung des Sozial- und Leistungsverhaltens im Unterricht bzw. wenn trotz konsequenter Förderung keine Verbesserung der LRS erzielt werden kann).

Erläuterung zu Erlass I


Gibt es einen Bescheid oder ist eine Diagnose für die Schule notwendig?
Nein, es gibt keinen „Legasthenie-Bescheid“ (auch keinen Zeugnisvermerk). Eine Diagnostik ist für die Berücksichtigung im schulischen Umfeld nicht notwendig. Für eine gezielte Förderung ist es jedoch hilfreich.

Handreichung für den Bezirk Braunau zum Thema Lese-Rechtschreib-Schwäche


Die Schule darf außerschulische Gutachten nicht einfordern - nur Empfehlungen sind möglich!

FAQs von der Schulpsychologie-Bildungsberatung (Landesschulrat für Niederösterreich)


Aufgabe der Schule ist es, durch Individualisierung, Personalisierung und Differenzierung den Schülerinnen und Schülern die jeweils passenden Zugangsmöglichkeiten zu eröffnen, damit sie aktiv und zunehmend eigenständig ihre individuellen Leistungspotenziale und besonderen Begabungen entfalten können. Leistungsfähigkeit ist dabei kontinuierlich zu fördern und herauszufordern.

Lehrplan für NMS 2018


Es ist also die Aufgabe der Lehrkraft Lernprobleme zu erkennen und dementsprechend darauf zu reagieren. Die Lehrkraft ist verpflichtet differenziert zu unterrichten, zielgerichtete Lernangebote zu schaffen und unterschiedliche Vorerfahrungen zu berücksichtigen.

Die Lehrkraft darf ohne Vorliegen eines Befundes gemeinsam mit speziell ausgebildeten Fachlehrkräften und der Schulleitung entscheiden, welche Hilfestellungen notwendig sind. Die notwendigen Hilfestellungen, die im Schulalltag zum Einsatz kommen, sind auch bei den (abschließenden) Prüfungen anzuwenden.

Fazit

Abschließend möchte ich betonen, wie wichtig es ist, Mythen und falsche Vorstellungen über Lernstörungen zu entlarven und stattdessen aufklärerische Maßnahmen zu ergreifen. Es ist unerlässlich, dass diese irreführenden Informationen nicht ungeprüft im Internet kursieren.

Weitere Mythen über Lernstörungen kannst du in einem Blogartikel meiner Kollegin Sabine Landua entdecken:
5 Mythen bei LRS und Rechenschwäche – einmal schreddern bitte!

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