Keine Monokultur in der Rechtschreibförderung

Einleitung

In der Welt der Rechtschreibförderung gibt es viele Methoden – und noch mehr Meinungen darüber, welche davon „die beste“ sei. In Vorträgen, Seminaren und Onlineforen begegnet mir immer wieder dieselbe Haltung: Diese Methode wirkt – und alle anderen taugen nichts.

Doch so einfach ist es selten. Vor allem nicht, wenn man mit Kindern arbeitet, die große Schwierigkeiten mit dem Schreiben haben.

In diesem Beitrag werfe ich einen Blick auf die Gefahr der orthografischen Einseitigkeit, plädiere für methodische Vielfalt – und zeige anhand eines Praxisbeispiels, wie ein individueller Methodenmix gelingen kann.

Was hat Landwirtschaft mit Rechtschreibung zu tun?

In der Landwirtschaft setzen viele Betriebe auf Monokulturen – sie gelten als effizient und wirtschaftlich. Wer Tag für Tag nur Mais anbaut, braucht weniger Maschinen und muss sich nicht mit Rüben oder Weizen auskennen. Klingt erstmal praktisch.

Aber: Monokulturen laugen den Boden aus, verringern die Artenvielfalt und machen das gesamte System anfälliger für Störungen. Der Ertrag sinkt – trotz aller Vereinfachung.

Ein ähnliches Phänomen lässt sich in der Rechtschreibförderung beobachten. Auch hier wachsen mancherorts nur noch Basisgrapheme – während Silbenbögen als überholt oder gar schädlich dargestellt werden. Die einen schwören auf Rechtschreibregeln, die anderen auf Silbenschwingen. Und jede Fraktion ist überzeugt, die eine Methode gefunden zu haben, mit der alle Kinder schreiben lernen können – auch jene, die Vokallängen nicht sicher unterscheiden oder kaum Zugang zur Schriftsprache finden.

Doch Einseitigkeit war selten eine gute Idee – weder auf dem Acker noch am Förderplatz.

Plädoyer für Methodenvielfalt

Kinder mit Rechtschreibproblemen sind keine genormten Maisfelder. Sie bringen unterschiedliche Voraussetzungen, Stärken und Schwächen mit. Wer sie alle mit ein und derselben Methode erreichen will, läuft Gefahr, an vielen vorbeizuarbeiten.

Basis- und Orthographeme sind ein echter Gewinn

Die Systematik der Basis- und Orthographeme ist zweifellos ein Gewinn. Sie bringt Ordnung in die oft verwirrende deutsche Rechtschreibung. Förderkräfte und Lerntherapeut:innen erhalten damit einen tieferen Einblick in den Aufbau des deutschen Schriftsystems – und können das Motto „Vom Leichten zum Schweren und vom Häufigen zum Seltenen“ gezielter in ihrer Arbeit umsetzen.

Nur wenn ich als Lerntherapeutin selbst einen klaren Überblick über die Häufigkeit bestimmter Grapheme habe, kann ich passendes Wortmaterial für meine Förderkinder auswählen. Die Basisgraphem-Strategie hilft, den Fokus zu schärfen – auf das, was für viele Kinder besonders häufig und damit besonders wichtig ist.

Silben sind kein Allheilmittel, aber doch ein bewährtes Hausmittel

Das Silbenprinzip kann dabei helfen, besonders lautgetreue Wörter besser zu gliedern. Das rhythmische Sprechen und Schwingen unterstützt gerade schwache Rechtschreiber – und wirkt für viele Kinder wie ein sprachlicher Taktgeber.

Durch das silbenweise Mitsprechen fällt es deutlich leichter, die richtige Reihenfolge der Buchstaben einzuhalten. Buchstaben werden seltener ausgelassen, das Schriftbild wird klarer. Auch das Korrekturlesen lässt sich mithilfe der Silbenmethode von Anfang an einüben – zum Beispiel, indem Kinder nach dem Schreiben Silbenbögen unter ihre Wörter malen.

Sprachrhythmus – das unterschätzte Fundament

Der Sprachrhythmus wird im Rechtschreibtraining – wenn überhaupt – meist nur am Rande gestreift. Und das völlig zu Unrecht, wie ich finde. In vielen Förderprogrammen ist von „typisch deutschen Wörtern“ die Rede. Alle anderen gelten als Fremdwörter und bilden häufig orthografische Ausnahmefälle.

Doch wie erkenne ich überhaupt ein solches Fremdwort?
In vielen Fällen ist es der abweichende Sprachrhythmus, der uns darauf hinweist.

Nur wenigen Förderkräften ist bewusst, dass Dehnungs-Markierungen wie das Dehnungs-h oder das Dehnungs-i nur in betonten Silben vorkommen. Genau deshalb schreiben wir Pilot und Spinat nicht mit „ie“ – denn hier liegt die Betonung auf der letzten Silbe. Der Sprachrhythmus ist also nicht nur ein „Nice-to-have“, sondern ein wichtiger Schlüssel zur orthografischen Systematik.

Keine neuen Wortkreationen ohne Morpheme

Das Schönste an der deutschen Sprache ist ihre wunderbare Flexibilität und Kreativität. Kaum eine andere Sprache ermöglicht so herrlich absurde Wortschöpfungen wie Donaudampfschifffahrts-gesellschaftskapitänsabzeichen oder Unabhängigkeitserklärungs-unterzeichnungszeremonie.
Gibt es kein passendes Wort? – Im Deutschen bastelt man es sich eben selbst. Mit Bausteinen wie ver-, be- oder -heit lassen sich im Handumdrehen neue Wörter zusammensetzen.

Die Anzahl der gebräuchlichen Morpheme ist dabei durchaus überschaubar. Wer sie kennt, richtig schreiben und sinnvoll einsetzen kann, hat einen wichtigen Schlüssel zur deutschen Rechtschreibung bereits in der Hand.

Methodenmix in Aktion – ein Beispiel aus der Praxis

Susi, 10 Jahre, kam während der Coronazeit mit einer eindeutigen Diagnose zu mir: überdurchschnittlich intelligent, aber mit einer isolierten Rechtschreibstörung. Sie konnte noch nicht alle Phoneme in Grapheme übersetzen, verwechselte Buchstaben und ließ Laute beim Schreiben aus. Ihre Lehrerin riet den Eltern zu einem Regeltraining mit einem bekannten Förderprogramm. Doch so einfach war es nicht.

Im therapeutischen Alltag zeigte sich schnell: Eine Methode allein würde Susi nicht abholen. Also begann ich, verschiedene Elemente zu kombinieren – abgestimmt auf ihre Stärken und Schwächen.

Zunächst sicherten wir die Basisgrapheme, das heißt: Wir konzentrierten uns auf die Grapheme, die am häufigsten vorkommen. Zum Beispiel arbeiteten wir mit lautgetreuen Wörtern mit dem Buchstaben f. Wörter wie Vater oder Vogel habe ich zu diesem Zeitpunkt bewusst weggelassen. Parallel dazu führte ich das silbenweise Mitsprechen ein. So konnte Susi beim Schreiben die Reihenfolge der Buchstaben besser einhalten – und Wörter wie Schule oder Rose fehlerfreier verschriftlichen.

Gemeinsam analysierten wir gesprochene und geschriebene Wörter:

  • Welche Silbe wird betont, welche ist unbetont?
  • Welche Besonderheiten zeigen die unbetonten Silben am Wortende?
  • Warum schreiben wir in unbetonten Silben ein e, obwohl wir es nicht immer hören?

Susi hatte den Dreh ungewöhnlich schnell raus. Nach wenigen Wochen konnte sie gut lautgetreu schreiben, sodass ich auch Rechtschreibregeln in ihr Training integrieren konnte. Da sie Wörter wie Sonne oder Wecker intuitiv in der künstlichen Pilotsprache Son-ne und Wek-ker mitsprach, behielten wir das silbenweise Mitsprechen weiterhin bei – untersuchten diese Wörter aber zusätzlich hinsichtlich orthografischer Regeln.
Warum braucht das Wort Sonne zwei n?
Wir philosophierten sogar darüber, warum nicht auch das k oder das z einfach verdoppelt werden. Das Ganze natürlich immer, ohne den Sprachrhythmus aus den Augen zu verlieren.

Später kamen die Morpheme ins Spiel. Susi lernte die unterschiedlichen Wortbausteine der deutschen Sprache kennen und baute daraus viele eigene Wörter. So schaffte sie es auch, Morpheme wie ver- und vor- korrekt zu verschriftlichen.

Parallel dazu lernte sie die Großschreibung mithilfe eines syntaxbezogenen Ansatzes richtig anzuwenden – eingebettet in einfache Satzübungen.

Zu guter Letzt übte ich mit Susi, all die verschiedenen Strategien auch im freien Schreiben anzuwenden. Sie lernte, ihre Texte selbstständig zu korrigieren und ihren Blick gezielt auf schwierige Wörter zu lenken.

Nach über einem Jahr war aus einer verunsicherten Schreiberin ein Kind geworden, das stolz auf die eigenen Fortschritte war.

Fazit: Vielfalt statt Fanatismus

Nicht jede Methode ist für jedes Kind geeignet. Und natürlich können wir nicht alle Kinder mit so vielen unterschiedlichen Ansätzen konfrontieren wie Susi – das würde viele überfordern.

Aber: Uns Förderkräften und Lerntherapeut:innen schadet es nicht, ein möglichst vielseitiges Repertoire an Förderideen im Methodenkoffer zu haben. So können wir individuell entscheiden, was ein Kind gerade braucht – und was (noch) nicht.

Denn am Ende zählt nicht, welche Methode die „richtige“ ist, sondern ob sie für dieses eine Kind, in diesem Moment, wirksam ist.

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